
Wenn der Partner dement ist

STADE. Auch mit 79 Jahren ist Helga Rühle
ehrenamtlich engagiert, trifft sich mit Freunden, fährt Auto.
„Ich mache aber deutlich weniger“, erzählt sie. Der Grund dafür
ist die Erkrankung ihres Mannes. Dietrich Rühle ist dement.
Seit 1960 lebt das Ehepaar in Stade. Dass mit ihrem Mann etwas
nicht stimmte, bemerkte Helga Rühle erstmals 2002. Das Paar
unternahm damals öfter Gruppenrundreisen. Doch auf einmal fand
Dietrich Rühle sich in einem großen Hotel nicht mehr zurecht.
Als ihm schließlich 2005 im Gespräch mit seiner Frau nicht ein
einziges Geschäft in der Hökerstraße mehr einfiel, ließ er sich
vom Neurologen untersuchen. Die Diagnose: vaskuläre, also
gefäßbedingte, Demenz. Ursache hierfür sind
Durchblutungsstörungen im Gehirn, die das Gewebe dauerhaft
schädigen. Männer sind häufiger betroffen, außerdem steigern
Rauchen, Bluthochdruck, erhöhte Blutfette (Cholesterin),
Diabetes das Erkrankungsrisiko. Soweit die Statistik. Obwohl er
immer schlank, sein Blutdruck immer niedrig war, hatte Dietrich
Rühle 1987 seinen ersten Schlaganfall. Mit 52 Jahren.
Bis heute erlitt der 80-Jährige mehrere kleinere Schlaganfälle.
Die Schäden im Gehirngewebe zeigen sich auf MRT-Bildern als
weiße Flecken. „Ich nenne sie Löcher im Gehirn“, sagt Helga
Rühle. Im Gegensatz zu Alzheimer, der häufigsten Form der
Demenz, verläuft die Krankheit ihres Mannes nicht als
kontinuierlicher Prozess. Dafür kann jeder neue Schlaganfall zu
einer abrupten Verschlechterung führen. „Ich hatte schon
Ausfälle des Auges, das hat sich aber gebessert“, erzählt
Dietrich Rühle. In der Medizin wird dieses Phänomen
Neuroplastizität genannt: Schädigungen im Gehirngewebe durch die
Minderdurchblutung können kompensiert werden, indem andere
Bereiche die Aufgabe übernehmen. Die „Löcher“ bleiben dennoch
zurück. Sie sorgen dafür, dass Dietrich Rühle in bestimmten
Alltagssituationen auf Hilfe angewiesen ist.
Die Desorientierung ist eines der Symptome, die Dietrich Rühle
am stärksten beeinträchtigen. „Manchmal gehe ich durch die
Straßen und auf einmal kommt mir alles neu vor“, erzählt der
80-Jährige. „Dann denke ich: Die Ecke kennst du gar nicht, das
kann nicht sein.“
Von Helga Rühle fordert die Demenz ihres Mannes Verständnis,
Rücksicht und Geduld. Er sei antriebslos geworden, sagt sie.
Wochen nach Weihnachten hat er es nicht geschafft, alle Grüße
zur Post zu bringen. „Manchmal wundere ich mich, wo die Zeit
bleibt“, sagt Dietrich Rühle. Seine Bewegungen sind
schwerfälliger geworden. Beim Gehen ist der Körper des
80-Jährigen nach vorn gebeugt. Er macht kleine Schritte. Zwar
kann er sich noch selbstständig waschen und anziehen, braucht
aber gelegentlich Hilfe. „Die Knöpfe bereiten mir
Schwierigkeiten.“ Ein typisches Bild im Alltag des Ehepaars:
Während Helga Rühle durch die Wohnung wirbelt, sitzt ihr Mann am
Esstisch und macht nichts.
Wenn sich der Großteil des Lebens um den pflegebedürftigen
Ehepartner dreht, können auch die Angehörigen krank werden – vor
allem, wenn sie selbst älter sind. Je nach Schweregrad der
Demenz kann es sein, dass der Angehörige rund um die Uhr für
seinen Partner da sein muss. Ihn waschen, füttern und wickeln
muss, während der Erkrankte ihn beschimpft oder um sich schlägt.
Dass er aufpassen muss, dass der Partner nicht stürzt, wenn er
nachts durch die Wohnung irrt. Er es aushalten muss, dass der
Mensch, mit dem er viele Jahrzehnte seines Lebens geteilt hat,
immer mehr abbaut, bis er selbst engste Familienmitglieder nicht
mehr kennt.
Wut, Verzweiflung und Trotz sind häufige Reaktionen pflegender
Angehöriger. Es passiert nicht selten, dass sie sie selbst
vernachlässigen, depressiv werden oder sogar beginnen, ihren
Partner für die Krankheit zu hassen. Dazu kommt oft das Gefühl
der Scham. Viele Angehörige ziehen sich zurück, wenn ihr Partner
dement ist, weil sie nicht möchten, dass Nachbarn oder Bekannte
schlecht über sie reden.
Viele Demenzerkrankte und ihre Angehörige machten den Fehler,
sich aus Scham nicht rechtzeitig um Hilfe zu kümmern, erklärt
Dr. Volker von der Damerau, Vorsitzender der Alzheimer
Gesellschaft Stade. „Dabei können die Symptome besser behandelt
werden, je früher die Krankheit erkannt wird.“ Außerdem sollten
Angehörige die Suche nach Hilfe nicht so lange hinauszögern, bis
die Belastung für sie zu stark wird. Helga und Dietrich Rühle
haben auf Anraten ihres Sohnes schon relativ früh Pflegegeld
beantragt.
Einmal pro Woche besucht Kerstin Wetzel das Ehepaar Rühle. Die
50-Jährige ist eine von 57 ehrenamtlichen Helferinnen, die die
Stader Alzheimer Gesellschaft an Haushalte mit Demenzerkrankten
vermittelt. 8 Euro erhält sie dafür pro Stunde, die Kosten
werden von den Pflegekassen erstattet. Der Stundentarif ist
deshalb so niedrig, weil sämtliche organisatorischen Arbeiten
auf ehrenamtlicher Basis erledigt werden.
Pflegekräfte sind die Helferinnen nicht. Sie verbringen Zeit mit
den Demenzkranken, begleiten, beschäftigen und beaufsichtigen
sie. Kerstin Wetzel geht mit Dietrich Rühle spazieren, spielt
mit ihm Gesellschaftsspiele oder bringt ihren Zwergspitz Florian
mit. „Für mich ist das Schönste daran, wenn ich die Menschen
aufmuntern kann“, sagt sie.
Für die Betreuung der Dementen werden die Helferinnen der
Alzheimergesellschaft speziell geschult. Etwa ein halbes Jahr
lang absolvieren sie verschiedene Kurse, bevor sie zu den
Familien in Stade und im Umkreis geschickt werden. Auch danach
treffen sich die Helferinnen regelmäßig, tauschen sich über ihre
Erfahrungen aus und erhalten weitere Fortbildungen. Zuständig
für die Ausbildung der Helferinnen sind Eva Becker und Erika
Migowski. Die beiden Frauen bringen medizinisches und
pflegerisches Fachwissen mit. Sie entscheiden auch darüber,
welche Helferin zu welchem Haushalt am besten passt.
Die Helferinnen der Alzheimer Gesellschaft entlasten aber auch
die Angehörigen, die dadurch eine Auszeit von der Betreuung
nehmen können. Und sie sind Ansprechpartner für viele Fragen
rund um die Krankheit. „Für mich ist es auch einfach schön zu
sehen, wenn mein Mann neue Eindrücke mitnimmt“, sagt Helga
Rühle. Ob ein ungewohnter Schlenker beim Spazierengehen, oder
ein Spiel, bei dem er eine kleine Figur greifen muss – die
Kerstin Wetzel baut bewusst kleine Hürden ein, die Dietrich
Rühle fordern.
Vor einigen Wochen besuchte Dietrich Rühle einen an Alzheimer
erkrankten ehemaligen Arbeitskollegen. Er wohnt im Seniorenheim.
Doch durch die Krankheit erscheine er so abwesend, als lebe in
einer anderen Welt. Wenn es nicht mehr geht, sagt Dietrich
Rühle, würde er auch in ein Pflegeheim gehen. „Ich bin aber
froh, dass ich es noch nicht muss.“
Wer selbst Helfer werden möchte oder die häusliche Begleitung in
Anspruch nehmen möchte, erreicht die Alzheimer Gesellschaft
Stade montags bis freitags unter Telefon 0 41 41 / 600 774 sowie
montags von 17 bis 19 Uhr unter dem Alzheimer-Beratungstelefon 0
41 41 / 800 220.
Tageblatt, 22.04.2016
Autor: Catharina Meybohm
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